Gedanken über weite Entfernungen. Eine Kontaktaufnahme


Ein Stück von Anne Hirth/büro für zeit+raum & Christian Kesten

2013



Wenn die Zuhörer hereinkommen, sind die Performer schon da. Sie sitzen und gucken sich das Publikum an. Sie spielen das nicht, sie tun das einfach. Auch wenn das Publikum sitzt, tun sie das. Sie sind selbst Zuschauer, Beobachter, Zuhörer. Composition 2013 #6*. Es passiert nichts, als dass Zuschauer und Performer einander ansehen. Vielleicht warten die Zuhörer auf etwas, aber die Performer warten auf nichts. Sie hören die Stille, die aktuellen Geräusche im Raum. Wir sind da. Und ihr auch. Nach etwa fünf Minuten fällt der erste Satz.

Play /// The performers make statements about themselves. They might be true or not.
The performers may ask questions (to find out if a statement is true or not).
Avoid to answer the questions with ‘yes’ or ‘no’—rather answer with a new statement. Frame each statement or question with silence. Statements and questions occur in no particular order, therefore questions may relate to statements from long before, and vice versa. /// 3 to 5 performers. /// At least one hour. /// (Try other versions.) ///
Process. Version of ‘Play’ /// 1 Only statements. /// 2 Statements and questions. /// 3 Only questions.

/// christian kesten 2013

Process. Version of ‘Play’ bildet die Basis der ersten halben Stunde von Gedanken über weite Entfernungen. Eine Kontaktaufnahme. Die statements sind jeden Abend neu und improvisiert. Komponiert ist die Struktur, in der sie erscheinen.
Die drei Phasen sind in time brackets organisiert, mit Angaben von Häufigkeit, Dichtegraden, Pausenlängen zwischen den Sätzen. Im Verlauf kommen als zusätzliche Schicht Rauschplateaux, 3” bis 9” lang, von Trompete und Stimmen (hörbarer Atem) derselben Performer dazu. Es entsteht sehr langsam eine zunehmende Verdichtung, verstärkt durch die Verschränkung mit dem folgenden Teil, aus dem punktuell Elemente auftauchen und in den die Performer sukzessive übergehen. Es sind fünf simultane Soli aus je unterschiedlichem gestischem und stimmlichem Material, teilweise schon innerhalb eines Solos als polyphones oder kontrapunktisches Zusammenspiel von Gesten und Stimme konzipiert. Das dynamische Spektrum reicht von stummen Gesten über geflüsterte, gesprochene sprachartige Artikulation, laute gesungene Einzeltöne, einatmend produzierte Multiphonics, bis hin zu geschrieenem rückwärts laufendem Text („sagst du was denk (…)“). Es entsteht ein Feld aus fünf Individuen im Raum, die ihre Klänge und Aktionen, einander durchdringend, in die Stille setzen.

Später im Stück spielen in einem anderen Simultanfeld zwei der Performer auf drei Instrumenten – Violine, Trompete, Synthesizer – Glissando-Miniaturen, jeweils zwischen 20” und 50” lang. Diese Miniaturen sind graphisch als Linien notiert. Andere Performer interpretieren währenddessen diese oder ähnliche Linien als Bewegung, als Wege im Raum: auf dem Rücken liegend schieben die aufgestellten, laufenden Füße den Körper über den Boden, was ein feines Rauschen erzeugt. Diese Schichten sind aber nicht 1:1 aufeinander bezogen, sie sind sich unabhängig voneinander überlagernd in diesen Zeitraum gesetzt, in dem auch andere Aktionen passieren.

Gedanken über weite Entfernungen. Eine Kontaktaufnahme versteht sich als komponiertes Theater, in dem Klänge, Sprache, körperliche Aktionen als gleichberechtigtes Material gelten. Ausgangspunkt ist Hören. Die Stille grundiert das ganze. Die Komposition basiert auf Konzepten und Strukturen, die von den Performern ausgefüllt und gestaltet werden. Das Stück wurde in Modulen entwickelt, die in eine Abfolge gebracht wurden. Module können auch simultan einander durchdringen.

Das Stück war die letzte Premiere im traditionsreichen Wuppertaler Schauspielhaus, für das einst Pina Bausch ihre Stücke entwickelte. Es wurde komplett geschlossen und seine ungewisse Zukunft ist eine der großen kulturellen Tragödien im armen bundesdeutschen Westen.

Christian Kesten "Gedanken über weite Entfernungen", in: positionen 100. Texte zur aktuellen Musik, August 2014.

*La Monte Young: Composition 1960 #6, „The performers (…) sit on the stage watching and listening to the audience in the same way the audience usually looks and listens to performers. (…)“

Gedanken über weite Entfernungen. Eine Kontaktaufnahme
Ein Stück von Anne Hirth/büro für zeit + raum und Christian Kesten. Premiere Juni 2013, Kleines Schauspielhaus Wuppertal; Gastspiele Februar 2014 im Pumpenhaus Münster und in den Uferstudios Berlin. Von und mit Ivan Fatjo Chaves, Ariel Garcia, Gregor Henze, Gregory Stauffer, Irena Tomazin. Bühne/Kostüme: Alexandra Süßmilch. Licht: Arnaud Poumarat. Dramaturgie: Johannes Blum, Oliver Held.

PRESSE Sascha Westphal: "Die Entdeckung der Stille", nachtkritik.de
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