Christian Kesten

Hören inszenieren


Zur Inszenierung von Makiko Nishikazes M.M.

[Dieser Text erschien ebenfalls im Programmbuch der MaerzMusik 2006. Durch einen Irrtum der Redaktion wurde dort der vom Autor stammende kursiv gesetzte historische Exkurs als Zitate anderen Autoren zugeschrieben. Sie finden den Text hier in korrekter Form.]


Raum hören

Die Stille erfährt der ihr Zuhörende als ein Netz von Klängen und Aktivitäten, die potentiell unendlich sind. Er/sie erfährt sich selbst als Teil dieses Netzes. Er erfährt sich nicht mehr als Mittelpunkt des Universums, sondern eingebunden und als Teil vieler Mittelpunkte. Das Gefühl des Getrenntseins wird abgelöst durch die Erfahrung der Durchdringung. Die Stille durchdringt Außen-, Zwischen- und Innenraum. Die Erfahrung von Stille ist räumlich. Hören wird ganzkörperlich.

In meiner Arbeit an einer neuen Form von Musiktheater wird ‘Raum‘ als musikalischer Parameter behandelt. Der Raum ist das Feld, in dem sich weniger Musik und Theater, eher die akustische und die optische Wahrnehmung berühren.

In jüngster Zeit beginnen Blinde sich über Schnalzlaute zu orientieren. Sie wandern im Gebirge und fahren sogar Fahrrad.(1) Sie orientieren sich im Raum allein über das Hören.
Die Atmosphäre eines Raumes wird nicht nur über das Licht, die Farben usw., sondern zu einem erheblichen Teil über seine akustischen Qualitäten bestimmt. Wir nehmen viel mehr über die Ohren wahr, als uns bewusst ist. Wie das Beispiel der Blinden zeigt, sind wir eigentlich in der Lage, uns ähnlich wie Fledermäuse durch den Raum zu bewegen.
Der Mensch scheint sich der Vorgänge, die tatsächlich in seinem Kopf passieren, nur wenig bewusst zu sein.

Wenn spirituelle Erfahrung ein zu hehrer Begriff ist, dann geht es in dieser Art des Musiktheaters zumindest um Bewusstseinserweiterung, um räumlich-akustisches Bewusstsein, die Fähigkeit, mit den Ohren sozusagen zu sehen.

Dieses Musiktheater ist daher prinzipiell nicht-narrativ. Es geht nicht um den indirekten Weg des Erzählens, nicht darum, etwas anderes darzustellen, auf etwas anderes zu verweisen. Es geht für den Zuschauer darum, eine eigene Erfahrung zu machen, sie jetzt zu machen, und jetzt heißt, im Augenblick der Aufführung.


Raum in dieser Inszenierung

Der Boden des Werner-Otto-Saales im Konzerthaus besteht aus 132 Hubpodien, die der Bildende Künstler Kai Schiemenz zu einer Landschaft gestaltet, die Sänger, Musiker und Publikum gleichermaßen bevölkern; sie sind alle in einem Raum.

Sänger und Instrumentalisten bilden durch Verteilung im gesamten Raum unterschiedliche Konstellationen. Durch die verschiedenen Entfernungen entsteht für den Zuschauer nicht nur rein akustisch, sondern zusätzlich durch die physische Präsenz eine sinnliche Wahrnehmung des Raumes, in dem er sich selbst befindet.

Komposition und Inszenierung schaffen Hand in Hand durch Gestaltung der Konstellationen unterschiedliche räumliche Strukturen.

Jeder Zuschauer hat seinen individuellen Hör- und Blickwinkel des Stücks und nimmt genauso wie jeder Sänger oder Instrumentalist Anteil an dem gemeinsam geteilten Raum.


Simultaneität

Auf Spielflächen in verschiedenen Ebenen – und zusätzlich an kleineren Orten an den Rändern, in den Zwischenräumen – finden simultan Ereignisse statt.

Die in verschiedenen Blöcken oder auch vereinzelt dazwischen sitzenden Zuhörer und Zuschauer haben die Erfahrung eines Netzes, von Kraftlinien im Raum. Der Zuschauer hat die Wahl, die Aufmerksamkeit zu richten oder je nach Perspektive Gleichzeitigkeit wahrzunehmen.

Simultane Aktionen, die scheinbar unabhängig voneinander sind und sich nicht gegenseitig kommentieren, ermöglichen dem Zuschauer die Perspektive des Beobachtens, des Blicks aus einem höheren Standpunkt/Winkel. Somit transzendieren sich die Situationen gegenseitig und ermöglichen die Erfahrung des Zwischenraums, des „Grundes“(2).


Nicht-Handlung

In meinen Inszenierungen verstehe ich Vokalisten wie Instrumentalisten grundsätzlich als Performer. Sie nehmen in erster Linie wahr: sie hören. Hören ist ihre physische Präsenz.
Aktionen verstehe ich als Nicht-Handlungen, das heißt Handlungen, die die Stille nicht stören; Aktionen, die leer sind, „leer“ heißt: frei von Wollen, Machen, frei von Absicht. Aktionen werden zu Nicht-Handlungen, wenn sie hörend geschehen, die Stille hörend.


Literarische Grundlage

M.M. nun basiert auf der biblischen Geschichte des Ostermorgens. Maria begegnet Jesus am leeren Grab, hält ihn zunächst für einen Gärtner, fragt den, der lebendig vor ihr steht, ob er ihr nicht bei der Suche nach seinem Leichnam helfen könne(3), erkennt ihn, als er sie mit ihrem Namen anspricht, aber darf ihn nicht festhalten, da er noch nicht „aufgefahren“ sei.

Die historische Maria, Mariam oder Mirjam war eine wohlhabende Frau aus Magdala am See Gennesaret, wo sie ein Haus besaß. Sie wurde von dem galiläischen Wanderrabbi Jeshua ben Joseph – Jesus von Nazaret - von „Dämonen“, also einer psychischen Krankheit, vielleicht auch Epilepsie, geheilt(4). Daraufhin schloss sie sich ihm und seinen Jüngern und Jüngerinnen an und wurde seine Vertraute, Gefährtin, wie anzunehmen ist sogar Geliebte. Sie war Augenzeugin seiner Kreuzigung, einer damals bei den römischen Herrschern üblichen Todesstrafe, und wollte den Leichnam am Grab besuchen. Damit begab sie sich selbst in Lebensgefahr, da es Praxis war, Angehörige, die trauerten, auch gleich zu kreuzigen. Der Überlieferung nach erschien ihr Jesus, nachdem sie das Grab leer vorfand. Sie erhielt von ihm den Auftrag, den andern Jüngern von seiner Auferstehung zu berichten, wodurch sie eine herausragende Rolle unter der Jüngerschaft einnimmt. Maria Magdalena ist eine der wenigen Frauen, die mit wörtlicher Rede in der Bibel vertreten ist.
Später soll sie von ihren Feinden auf einem steuerlosen Boot ausgesetzt worden sein, was bei Marseille gestrandet sein soll. Dort lebte sie in einer Höhle. In Südfrankreich existiert ein sehr verbreiteter Magdalenen-Kult, es wird überliefert, dass sie, da sie ‚klarsichtig’ war, sich in dem tageslichtlosen Höhlensystem orientieren konnte.(5)

An der Figur der Maria von Magdala wird das Verhältnis der mitteleuropäischen Christenheit zur Rolle der Frau sowie zu Sexualität deutlich. Die Kunstgeschichte durchzieht das Bild der Maria Magdalena als Heilige und Hure, als „femme fatale“ an Jesu Seite. Papst Gregor I. macht im Jahr 591 in einer Homilie Maria Magdalena zur ehemals Prostituierten, indem er sie mit einer anderen Maria, der sogenannten „Sünderin“, die Jesus mit ihren Tränen die Füße wäscht, für identisch erklärt. Erst 1896 wird das Evangelium nach Maria, 1945 weitere apokryphe Evangelien nach Philippus, Thomas u.a. gefunden, in denen Maria als Geliebte Jesu von Nazaret beschrieben wird. 1969 hebt die Katholische Kirche offiziell die Bezeichnung Maria Magdalenas als Hure auf.(6) In der Ostkirche fand diese Verschmelzung der unterschiedlichen Frauengestalten nicht statt. Maria von Magdala wird hier weiterhin als Jüngerin und erste Osterzeugin verehrt.(7)



Der biblische Text, der 50-70 Jahre nach der Kreuzigung verfasst wurde, darf als Gleichnis verstanden werden, als poetische Umschreibung einer spirituellen Erfahrung.

Maria hat ihren geliebten Meister verloren und trauert um ihn. Sie sorgt sich in rührender Hingabe um den Leichnam, ob er vielleicht gestohlen wurde. Maria, die ehemals „Geisteskranke“, die im Gefühl des Getrenntseins gelebt hatte, die die Heilung davon erfahren hatte, glaubt sich nun wieder getrennt.

„Maria“ – sie erkennt Jesus durch das Hören. Sie erkennt ihn an seiner Stimme. Sie weiß, indem sie hört.
„Noli me tangere – Me mou aptou - Halte mich nicht fest!“(8) Statt der Berührung, des Begreifens, gilt es zu vertrauen.
„Noli me tangere“ steht für die Nicht-Handlung, die nicht-anhaftende Tat.

Maria, die Sich-Hingebende, Sorgende und Helfende soll loslassen vom Materiellen, Körperlichen, soll Nicht-Anhaften an den Dingen (und auch der Körper ist ein Ding). Jesus ist nicht zu „haben“, seine Präsenz offenbart sich im Immateriellen.


Nicht-/Narrativität

Die Inszenierung liest die Begebenheit des Ostermorgens wie eine japanische „Handtellergeschichte“(9). Die biblische Situation wird „ausgeborgt“, aus ihrer Essenz entsteht eher abstraktes musikalisches Theater.

Die Komposition durchläuft einen inneren Prozess, dessen musikalischer Ausdruck die Inszenierung durch subtile Choreographien, sich verwandelnde räumliche Konstellationen, Bilder, Ereignisse, Aktionen heutig oder besser zeitlos kontrapunktiert. Komposition und Aktionen sind jeweils unterschiedliche Performanz der gleichen Essenz.

Die Inszenierung befasst sich mit den abstrakten, inneren Räumen der literarischen Grundlage.

miteinander laufen. voraus laufen. zum Grabe kommen. hinein schauen. nicht hineingehen. nachkommen. hineingehen.
ein besonderer Ort (Schweißtuch).
nicht dazulegen. beiseits legen.
wieder heim gehen.
(vor dem Grabe) stehen. draußen.
(in das Grab) schauen.
weggenommen, und ich weiß nicht, wo.
sich zurückwenden. sich umwenden.

Das Missverständnis – Maria hält Jesus für den Gärtner –, die Konfusion als Phänomen der Kommunikation ist Ausgangspunkt für stille, assoziative Bilder, Aktionen.

Die Ereignisse sind nicht als „Szenen“ zu lesen, eher als performative Akte, ermittelt anhand von Zufallsoperationen: alle Verben, alle Substantive, alle Ortsangaben aus dem Basistext werden aufgelistet und in zufällige Verbindungen gebracht. Daraus entwickeln die Performer Aktionen, die in verschiedenen Formen Echos der biblischen „Handtellergeschichte“ sind. Echos im inneren Raum.

Dabei kann Realistisches entstehen, Abstraktes. Beides. Brüche. Die Zusammenhangslosigkeit, die Durchdringung von Unabhängigem transzendiert das Narrativ-Tatsächliche und macht den Blick frei für den Zwischenraum, den Blick ins Jenseits.

Der stille Raum

Makiko Nishikazes Komponieren bedeutet, in einen inneren Raum zu gehen und den Ton, die Note, die folgen soll, auftauchen zu lassen, besser: vorzufinden. Dem Stück, wie es selbst entstehen will, zuzuhören.
Das verstehe ich als Praxis der Nicht-Einmischung, des Nicht-Handelns.

Die Musik selbst kommt aus und ermöglicht den Zugang zu einem inneren Raum. Zudem ermöglicht der Raumklang, wie oben beschrieben, die Erfahrung der Verschmelzung von Innen-, Außen- und Zwischenraum.

Hier durchdringen sich Komposition und Inszenierung. Akustische Ereignisse, sich verändernde Klangkonstellationen, Bewegungen, vokale wie instrumentale wie stumme Aktionen, Dinge, Zwischenräume, Licht – verstehen sich alle als musikalische Ereignisse im stillen Raum.

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1 Manfred Dworschak in: DER SPIEGEL 22/2004
2 Meister Eckhart (1260-1328), christlicher Mystiker
3 vgl. Susanne Ruschmann, Maria von Magdala, Stuttgart 2003, S.31
4 Lk 8,2
5 vgl. David Tresemer und Laura-Lea Cannon: „Wer ist Maria Magdalena?“, in: Jean-Yves Leloup: Das Evangelium der Maria, Paris 1997, dt. München 2005, S.24
6 vgl. Tresemer/Cannon, a.a.O., S.11ff.
7 vgl. Susanne Ruschmann, a.a.O., S.15.
8 „Hin und wieder wird die Aufforderung Jesu auch als ‚Rühr mich nicht an!’ übersetzt. Die griechische Form des hier zugrunde liegenden Verbs drückt jedoch klar die Beendigung einer bereits stattfindenden Berührung aus: ‚Halt mich nicht länger fest, lass mich los!’“ (Susanne Ruschmann, a.a.O., S.28).
9 Yasunari Kawabata (1899-1972) prägte den Begriff „Handtellergeschichten“ - Geschichten, die auf einen Handteller passen, Miniaturen über das Leben, die Gefühle und die Menschen, die sich darin verstrickt haben.
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